* 19 *
Die beiden Ratten klapperten vor Angst mit den Zähnen, als Feuerspei vom Hof des Zaubererturms unter den Buhrufen der Rattenwürger in den Himmel stieg. Jenna war zu sehr damit beschäftigt, sich alles, was sie über den Drachenflug wusste, ins Gedächtnis zu rufen, um auf den Lärm zu achten, aber eine schrille Stimme war nicht zu überhören.
»Sie steckt mit ihnen unter einer Decke. Habe ich es euch nicht gesagt? Sie und dieses Boot, das sie hierhergebracht hat. Kommt, Jungs.« Die Stimme gehörte einer großen Frau mit Igelfrisur, während die meisten Rattenwürger Männer und Jungen waren. »Kommt, wir werden es ein für allemal versenken.« Der Rest der Rattenwürger antwortete mit beifälligem Gejohle.
Feuerspei gewann an Höhe, und Jenna und Wolfsjunge sahen, wie die Menge durch den Großen Bogen drängte und sich in die schmale Gasse ergoss, die zur Bootswerft führte. Was die beiden Ratten anging, so schaukelten sie unter dem Drachen bedenklich hin und her.
»Dawnie«, sagte die größere, die an Feuerspeis Schwanz hing, stöhnend zu der kleineren und molligeren, die sich an seine Waden klammerte. »Dawnie, du bringst mich um. Muss du dich so an mir festkrallen?«
»Meinst du, ich tu das zum Vergnügen, Stanley? Was soll ich denn tun? Loslassen und mich von diesen Fanatikern da unten abmurksen lassen? Willst du das?«
»Autsch. Nein. Sei nicht albern, Schatz. Ich wollte ja nur fragen, ob du deinen Griff ein bisschen lockern könntest. Ich spüre meine Füße nicht mehr.«
Feuerspei ging tiefer und flog dicht über die Rattenwürger hinweg. Einer von ihnen warf einen Mülleimerdeckel. Der Deckel wirbelte wie eine fliegende Kreissäge durch die Luft, direkt auf die Ratten zu. Stanley schloss die Augen. Das war’s, dachte er. Was für ein Abgang. Einem fliegenden Mülleimerdeckel zum Opfer gefallen!
Doch Feuerspei hatte das nahende Flugobjekt gesichtet, und das Ausweichtraining der letzten Wochen mit Septimus, das er gehasst hatte, weil er dabei von Beetle mit allen möglichen Gegenständen beworfen worden war, zahlte sich nun aus. Gekonnt wich er dem Deckel aus und gab ihm sicherheitshalber noch einen kräftigen Stoß mit dem Schwanz.
»Oh weh, Stanley! Wir werden steeeee...«, schrie Dawnie. Wolfsjunge, dem vom Fliegen ziemlich schlecht war, empfand Mitleid mit Dawnie.
Jenna flog mit vollem Tempo in Richtung Werft. Die Rattenwürger blieben zurück, und Jenna schätzte, dass ihnen ungefähr fünf Minuten Zeit blieben, bevor die Horde auf der Werft eintraf. Fünf Minuten, in denen sie mit Feuerspei landen, zum Drachenhaus laufen und es irgendwie sichern mussten.
Jannit Maarten war ganz und gar nicht erfreut, als sie Feuerspei auf ihre Werft zufliegen sah. Der letzte Besuch des Drachens hatte in einer totalen Katastrophe geendet, und wie gewöhnlich hatten die Heaps dabei die Hauptrolle gespielt. Und jetzt war er wieder hier, und ganz bestimmt hatte er einen Heap an Bord. Als sie sah, dass der Drache zur Landung ansetzte, versuchte sie, ihn zu dem freien Platz zu dirigieren, an dem das Porter Lastschiff gelegen hatte, das sie vorhin mit Rupert Gringe zu Wasser gelassen hatte. Aber Feuerspei schenkte ihr keine Beachtung. Er mochte Menschen nicht, die mit den Armen fuchtelten und brüllten: »Hier rüber, hier rüber! Mast- und Schotenbruch, was tut das dämliche Vieh denn?«
Feuerspei rauschte direkt über Jannits Kopf hinweg, wobei er sie nur um Haaresbreite verfehlte, und landete auf dem Ruderhaus eines alten Fischerkahns, der in einem recht morschen Zustand war. Das Ruderhaus konnte allenfalls noch das Gewicht einer einzelnen ruhebedürftigen Möwe tragen, aber einem Drachen, dessen Gesamtgewicht dem von exakt 764 Möwen entsprach, hielt es nicht mehr stand. Unter lautem Krachen stürzte es in sich zusammen, und Feuerspei und seine Passagiere plumpsten in eine faulige Pfütze im Rumpf des Kahns.
»Hoch, Feuerspei, hoch!«, rief Jenna und versetzte dem Drachen einen kräftigen Tritt in die rechte Flanke. Begleitet von lautem Quieken aus Richtung Schwanzspitze, arbeitete sich Feuerspei unter ziemlich würdelosem Gestrampel und Geflatter aus dem Rumpf nach oben und landete neben dem Kahn.
»Nun seht euch an, was ihr angerichtet habt«, schimpfte Jannit, die keuchend neben dem Wrack ankam. »Wir hätten es noch reparieren können. Rupert wollte morgen damit anfangen. Und nun seht es euch an.«
»Es tut mir leid, Jannit«, entschuldigte sich Jenna und rutschte vom Hals des Drachen. »Ehrlich. Aber die Rattenwürger sind auf dem Weg hierher. Sie wollen das Drachenboot zerstören.«
»Wieso denn? Das Boot ist doch keine Ratte.«
»Ich weiß«, erwiderte Jenna kurz angebunden und rannte, Feuerspei in Wolfsjunges Obhut lassend, zum Drachenhaus.
Jannit heftete sich an ihre Fersen. »Jenna!«, rief sie ihr nach. »Jenna!« Aber Jenna blieb nicht stehen. Jannit ärgerte sich. Die Sache gefiel ihr nicht. Gewiss, sie war nicht gerade begeistert gewesen, als vor ein paar Monaten mitten in der Nacht dieses Boot, das halb Boot, halb Drache war, unerwartet hier aufgetaucht war. Nun aber, da es auf ihrer Werft lag, fühlte sie sich dafür verantwortlich, und niemand vergriff sich an Jannit Maartens Booten, schon gar nicht eine Bande von Rabauken, die sich Rattenwürger nannten. Jannit mochte Ratten.
»Rupert«, rief sie im Vorbeilaufen Rupert Gringe zu, der gerade emsig Holz sägte, »nimm so viele Gehilfen, wie du finden kannst, und schließ das Tunneltor. Leg die Riegel vor. Rasch!« Rupert Gringe ließ alles stehen und liegen und lief, wie von Jannit geheißen, sofort los. Er wusste, wenn ihr etwas wirklich ernst war.
Das Drachenboot lag neben der Werft am Ende eines kurzen Kanals, der bis vor Kurzem noch an der blanken Wand der Burgmauer geendet hatte. Seit Jannit die Werft besaß, hatte sie sich gefragt, wozu dieser Kanal gut sein sollte. Vor drei Monaten hatte sie es herausgefunden. Sie war mitten in der Nacht aufgewacht und hatte festgestellt, dass sich in der Mauer am Ende des Kanals eine riesige Höhle aufgetan hatte. Und nicht irgendeine alte Höhle, sondern ein großes, mit Lapislazuli ausgekleidetes Gewölbe, das mit goldenen Hieroglyphen bemalt war. Jannit hatte für Prunk und Protz nicht viel übrig und fand das ganze Ding etwas peinlich, und doch musste sie zugeben, dass sie beeindruckt war. Sie bezweifelte, dass es auf der Welt eine zweite Werft mit einer solchen Halle – oder einem solchen Boot – gab, und das erfüllte sie mit Stolz.
Eines freilich stimmte sie traurig: Zusammen mit Rupert Gringe und Nicko hatte sie das Drachenboot zwar wunderbar repariert – kein Mensch hätte ihm angesehen, dass es von zwei Feuerblitzen getroffen worden und auf den Grund des Burggrabens gesunken war –, doch der Drache selbst war immer noch ohne Bewusstsein. Er lag im Drachenhaus, und sein Kopf ruhte auf dem kühlen Marmor des Fußwegs an der Seite. Seine großen grünen Augen waren geschlossen, sein Atem ging langsam und gleichmäßig. Sein Schwanz war behutsam auf einen Marmorsims im hinteren Teil des Drachenhauses gelegt worden und hatte sich, von Jannit und Nicko sauber zusammengerollt wie ein dickes grünes Tau, seither nicht bewegt.
Ein lautes Klirren hallte über die Werft, als Rupert am Tunneltor den Riegel vorschob. Einen Augenblick später erhob sich ein Scheppern und Klappern, das noch lauter war. Die Rattenwürger waren da. Sie hatten gerade noch gesehen, wie vor ihrer Nase das Tor geschlossen wurde.
»Ich möchte nicht, dass diese aufgebrachte Menge hier drin meine Boote beschädigt!«, rief Jannit, als sie zu Jenna aufschloss. Sie quetschten sich um einen hohen Bretterstapel herum, der an der dicken Burgmauer lehnte, liefen einen schmalen Pfad zwischen zwei Booten mit hohen Masten entlang, die eine neue Takelage brauchten, und schon waren sie am Eingang des Drachenhauses. Während wütende Schreie über das Gelände hallten und gegen das Werfttor gehämmert wurde, traten Jenna und Jannit in das stille Halbdunkel des Drachenhauses.
Das Drachenboot lag ruhig da, und sein großer Kopf ruhte auf Jannits einzigem, inzwischen etwas verkohltem Perserteppich, der auf dem Marmorweg am Ufer ausgebreitet war. Jenna kniete nieder und legte dem Drachen die Hand auf den Kopf, aber er rührte sich nicht, wie immer. Seine glatten Schuppen fühlten sich kalt an, und die Augen unter schweren dunkelgrünen Lidern zuckten nicht, als Jenna sie streichelte.
Jannit stand etwas abseits und sah zu. Nicht einmal in der jetzigen Situation wollte sie Jenna stören, wenn sie beim Drachenboot war. Sie war Jennas Besuche beim Drachen gewohnt, ließ die beiden normalerweise aber allein, da sie sich sonst wie ein Störenfried vorgekommen wäre. Ihr war aufgefallen, dass es auf der Werft häufig mucksmäuschenstill wurde, wenn Jenna den Drachen streichelte, heute jedoch nicht. Der Lärm der Rattenwürger, die sich gegen das Tor warfen, erfüllte die Luft. Jannit fragte sich, ob Jenna wusste, was sie tat. Statt ihre Zeit damit zu vergeuden, den Drachen zu streicheln, sollten sie lieber damit beginnen, vor dem Drachenhaus eine Art Barrikade zu errichten. Doch sie sagte nichts, denn Jennas Entschlossenheit, das Drachenboot wieder zum Leben zu erwecken, hatte ihr im Lauf der Monate Respekt eingeflößt.
Plötzlich sprang Jenna auf. »Ich glaube, ich habe ihn gehört!«, rief sie, und ihre Augen leuchteten vor Erregung.
»Wen?«, fragte Jannit, die durch ein paar originelle Kraftausdrücke abgelenkt wurde, die Rupert Gringe den Rattenwürgern zurief.
»Den Drachen. Es war sehr leise, aber ich bin mir ganz sicher. Wir sollten das Drachenhaus verschließen.«
»Und wie?«, raunzte Jannit, der nun ernste Bedenken kamen, da sie begriff, dass die Menge nicht abziehen und wohl auch nicht davor zurückschrecken würde, das Drachenboot zu zerstören.
»So, wie es geöffnet wurde. Mit Feuer – mit Drachenfeuer.« Und dann zog Jenna ein langes Gesicht, denn sie erinnerte sich wieder. »Oh weh«, rief sie, »Feuerspei kann ja gar nicht Feuer speien!«
»Doch«, widersprach Jannit, die von Nicko alles darüber wusste, wie Feuerspei ausgebrütet worden war. »Als er geschlüpft ist, hat er es jedenfalls gekonnt.«
»Das war nur Babyfeuer. Das machen alle Drachen nach dem Schlüpfen.«
Das Krachen von splitterndem Holz schallte über die Werft.
»Gleich brechen sie durch das Tor«, sagte Jannit auf ihre nüchterne Art. »Uns bleibt nicht mehr viel Zeit. Entschuldige mich, ich gehe meine Axt holen. Die suchen Streit, und den können sie haben.«
Jenna wusste, dass ihr nichts anderes übrig blieb: Irgendwie musste sie Feuerspei dazu bringen, Feuer zu speien. Sie zog die Navigatorenbonbondose aus der Tasche, öffnete sie und fischte das rote Stück Drachenhaut heraus. Sie faltete es auseinander und stellte zu ihrem Schrecken und ihrer Verwunderung fest, dass nur ein Wort daraufstand: Zünd. Das sollte genügen?
Aber sie wusste, sie musste es versuchen. Sie rannte zu Feuerspei zurück.
»Entschuldige, 409«, sagte sie außer Atem und erklomm Feuerspeis Rücken. Wolfsjunge wollte ihr nachklettern, doch zu seiner Erleichterung rief Jenna: »Das muss ich alleine erledigen. Ich muss Feuerspei dazu bringen, dass er Feuer speit.«
Der Drache spitzte die Ohren. Feuer? Jetzt? Und was war mit dem Frühstück?
Vom Tor drang vielstimmiges Gejohle herüber, und Rupert Gringes Stimme brüllte: »Wenn ihr Ratten wollt, holt sie euch, Leute. Große fette mit Äxten. Nur zu!«
Wie als Antwort auf Ruperts freundliche Einladung warfen sich die Rattenwürger mit aller Macht gegen das Tor. Wieder ertönte lautes Splittern und Krachen, und die Menge brach durch. Ein entsetzlicher Lärm erhob sich, und am Tor entbrannte ein wildes Handgemenge. Rupert, Jannit und die Werftgehilfen kämpften beherzt und gewannen auch die Oberhand, doch ein paar Rattenwürger entgingen dem Hagel von Hieben.
Angeführt von der großen Frau mit der Igelfrisur stürmten sie in Richtung Drachenhaus und brüllten, alle möglichen behelfsmäßigen Waffen schwingend: »Kampf dem Drachen, Tod dem Drachen, Tod, Tod, Tod!«